In Kreuzberg spielt die Musik – 20 Jahre Kreuzberger Chronik. Ein Stadtteilmagazin macht Geschichte
Ausstellungszeiten 23.6. – 26.8.2018
Eröffnung 22.6.2018, 18:00 Uhr (mit großem Live-Konzert)
Ausstellungs- und Veranstaltungsort: FHXB Museum, Adalbertstr: 95 a, 10999 Berlin, Eintritt frei
Im Dezember 1998 lag die Nullnummer der Kreuzberger Chronik zum ersten Mal in den Geschäften und Restaurants rund um die Bergmannstraße aus. Aus diesem Anlass zeigt die Browse Gallery in Zusammenarbeit mit dem Gründer und Herausgeber der Chronik, Hans Korfmann, im Friedrichshain-Kreuzbergmuseum (FHXB) in der Adalbertstraße einen Rückblick auf 20 Jahre Stadtteilmagazin mit Fotografien von Wolfgang Krolow, Michael Hughes und Holger Groß.
Titelbilder, eine Auswahl historischer Geschichten und Hintergrundinformationen führen von der 0-Nummer bis zur aktuellen 200. Ausgabe des Kultmagazins. Ein Schwerpunkt der Ausstellung ist die Kreuzberger Musikszene, die mit einer Reihe großformatiger Porträts in Bild und Wort beleuchtet wird.
Eröffnet wird die Ausstellung am 22. Juni mit einem Konzert im FHXB Museumsgarten,
bei dem die Protagonist*innen der Ausstellung live auf der Bühne im Museumsgarten stehen, u. a.: Christiane Rösinger, Bass-Gabi, Rachelina, Ralph Lanrue (Ton Steine Scherben), Hans Hartmann (Guru Guru), Rashidii Graffiti, Süleyman Celik, Gino Merendino. Moderiert wird das Ganze von Mustafa Akca (Operndolmusch der Komischen Oper).
Vergnügung wird nicht ausbleiben. Wir hatten schon beim Aufbau der Ausstellung mit Hans Korfmann viel Spaß.
Foto: Marga Behrend, Cover-Bild Kreuzberger Chronik, Foto © Wolfgang Krolow
1998 waren die Macher*innen des Stadtteilmagazins Kreuzberger Chronik mit dem verwegenen Anspruch an den Start gegangen, eine Chronik des Stadtteils schreiben zu wollen. Fast 20 Jahre später ist sichtbar: sie haben diesen Anspruch mehr als erfüllt. Es ist ihnen unter der Regie von Hans Korfmann eine ungewöhnlich lebendige und intime Form von Kulturgeschichtsschreibung gelungen, der tausende Leser*innen begeistert hat.
Nicht nur wurden im Laufe der 20 jährigen Geschichte des Blatts unzählige Orte (Straßen, Häuser, Plätze, Friedhöfe etc.) journalistisch gekonnt im Hinblick auf ihre Geschichte befragt und historisch berühmte Töchter und Söhne des Stadtteils aus dem späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert in Erinnerung gerufen.
Ihren herausragendsten Beitrag als einzigartige Chronik eines einzigartigen Ortes leistet das Magazin im Festhalten und Vermitteln Kreuzberger Alltags-Kultur und alternativer Lebensstile und Kunst ab den 60er Jahren. Zentrales Element sind dabei die Personen-Porträts von mehr oder gar nicht berühmten Kreuzberger*innen. Ihr Foto, aufgenommen von Krolow, Hughes oder Groß ziert das Cover jedes monatlich erscheinenden Magazins. Im Innenteil erfahren wir ihre Geschichte, basierend auf Interviews mit der Redaktion.
In den oft wunderschönene Texten werden persönliche Biographien und größere soziale oder kulturelle Zusammenhänge lokaler Geschichte verschränkt und sprachlich miteinander verwoben – über unterschiedliche Zeiten und Erzählorte hinweg. In den Erinnerungen von Menschen, die auch schon früher in Kreuzberg lebten, wird die Prägung durch Vergangenes gegenwärtig. Gleichzeitig prägt die Vitalität der Personenbeschreibungen aus den Jetztzeit-Interviews und in den Bildern die emotionale Kraft und individuelle Bedeutsamkeit kollektiver Erinnerungsbilder und Erkennungsmomente der Nachkriegsgeschichte.
„Gabi Mehlitz kommt auf der kleinsten Bühne zurecht. 18 Quadratmeter hatten die drei Geschwister in der winzigen Eineinhalb-Zimmer-Wohnung am Schlesischen Tor zur Verfügung, aber Gabi »war das völlig egal, wir kannten nichts anderes.« Für die Gitarre war kein Platz, nur für eine Blockflöte. Die Betten passten kaum in die Wohnung, nach dem Abendessen fiel traditionell immer der gleiche Satz: »Muss jemand noch mal an den Schrank? Dann wurde der Tisch abgeräumt und vor den Schrank geschoben. Und dann wurden die Klappbetten ausgezogen.« Als Gabriele Mehlitz geboren wurde, war der Krieg noch nicht lange vorbei. Die Stadt war schon getrennt, aber die Mauer stand noch nicht. Sonntags spazierten sie über die Oberbaumbrücke zum Eisessen, »drei Kugeln Schokolade in der Muschel für 15 Pfennige«. Damals teilte sich die Welt noch nicht in Ossis und Wessis, sondern in die Zitroneneisfans mit kurzen Hosen und zerschundenen Knien, und in die etwas dicklichen, stets mit braunen Flecken bekleckerten Schokoladeneisschlecker. Gabi liebte Schokolade, aber sie war »so was von dünn«, dass der Eisverkäufer immer gleich nach der Zitrone griff ….“
So lauten die ersten Sätze des Porträts von Gabi Mehlitz, Gitarristin und Begründerin der weit über den Bezirk und Berlin hinaus bekannten Kreuzberger Kultband „Die Gabys“ in der 195. Ausgabe der Kreuzberger Chronik vom Dezember 2017. Sie zeigen die besondere Qualität der Kreuzberger Chronik, die sich mit dem 20jährigen Tun in die Annalen der Kreuzberger Kult- und Kulturgeschichte eingeschrieben hat.
Aber jenseits der Historie verbringt die Chronik für die Gegenwart und uns Kreuzberger*innen von heute noch etwas Wertvolles. Sie gibt uns eine Vorlage, eine Gelegenheit, einander zu kennen und anzusprechen, wenn wir das wollen – Anonymität und Isloation in der grauen Großstadt ein Stück zu durchbrechen, interessierte Begegnungen einzugehen mit Fremden – Begegnungen, aus denen kleine Inseln bunt gemischter, anteilnehmender Nachbarschaft entstehen können.
Davon brauchen wir heute wieder mehr in Kreuzberg, um siechender Gleichgültigkeit und Isolation in der maximal verwerteten Stadt entgegenzuwirken. Praktizieren lässt sich das im Moment eher noch im Kleinen, z.B. rund um ein paar Tische und Stühle auf der Straße – bei Menschen, die es wie die Chronik drauf haben, jedem, egal welcher Herkunft, das Gefühl zu geben, willkommen zu sein und gesehen zu werden, und die in der Lage sind, uns miteinander ins Gespräch zu bringen: bei Enzo im Weinladen oder in Conni’s Island Café.
Da iss sie noch oder wieder, die gewisse Kreuzberger Mischung und Lebensart – janz ohne kulturpolitische Inszenierung. Saluté!