Der Berliner Heinrichplatz wird in “Rio-Reiser-Platz” umbenannt. Das beschloss die F-K Bezirksverordnetenversammlung (BVV) am späten Donnerstagabend mit 27 Stimmen dafür, 8 dagegen und 12 Enthaltungen. Die Umbenennung soll im Rahmen der zum 70. Geburtstag Reisers und dem 50. Jahrestag der Bandgründung der Scherben geplanten Feierlichkeiten im September 2020 stattfinden.
Bei der öffentlichen Beteiligungsveranstaltung am 7. November im Aquarium am Kottbusser Tor wurde bereits über “Ein Platz für Rio Reiser” abgestimmt. 72 Personen hatten sich an dem Votum beteiligt. Mehr als die Hälfte, nämlich 38, entschieden sich für den Heinrichplatz. Bei dieser Veranstaltung hielt Kai Sichtermann (Ton Steine Scherben) folgende Rede:
“Nicht weit weg von hier, in der Oranienstraße, haben wir, also Rio, Lanrue, Wolfgang Seidel und ich, 1970 Ton Steine Scherben gegründet. Das ist 50 Jahre her und es war damals eine ganz andere Republik, nicht nur weil das Land durch eine Mauer geteilt war und dieser Teil von Kreuzberg fast vollständig von dieser Mauer umgeben war. An vielen Schaltstellen saßen immer noch Leute, die schon in der Nazizeit da waren: in Schulen und Ausbildung, Universitäten, Medien, Behörden, Verwaltung oder auch in der Regierung. Wir waren die erste Nachkriegsgeneration, hatten viele Fragen und haben nur ungenügende oder keine Antworten bekommen. Wir waren nicht wenige und vor allem nicht nur Studenten. Wir waren Schüler und Lehrlinge, Arbeiter, Freigeister, Weltenbummler, Künstler, Kreative und vieles mehr. Was uns zusammenhielt war der Wille nach Freiheiten & Gerechtigkeit, wir wollten ein selbstbestimmtes Leben & Arbeiten und hatten ziemlich schnell erkannt, dass wir uns selbst diese Freiräume schaffen müssen, dass wir diese reaktionäre Gesellschaft selbst verändern müssen. Wir lernten zivilen Ungehorsam und andere Methoden des Widerstands. Dass wir uns vielem widersetzten, fanden die, die an der Macht waren, gar nicht gut, und auch die, die der Status quo immer reicher gemacht hatte. Sie haben zurückgeschlagen unter Einsatz aller ihnen zur Verfügung stehenden Machtinstrumente. – Aber wir haben uns nicht unterkriegen lassen. Heute ist dieses Land, bei allen immer noch bestehenden Ungerechtigkeiten und Missständen, ein anderes.
Rio Reiser am Klavier, Foto: Rita Kohmann
Wir von Ton Steine Scherben waren ein Teil dieser aufbegehrenden Jugend. Unsere Musik ist direkt aus unserer Unzufriedenheit und aus unseren Wünschen & Träumen entstanden. Und es war Rio Reiser, der mit seinen Texten Worte gefunden hatte, die das alles hochaktuell beschrieben hatten, die zu Zeitdokumenten wurden und doch bis heute von zeitloser Gültigkeit und auch Schönheit sind. Und die Sehnsucht nach Gleichheit und Gerechtigkeit, nach Freiheit und Liebe – wird immer auch Antrieb sein, die Gesellschaft zu verbessern und das, was erreicht ist, auch zu verteidigen.
Damals wie heute waren unsere Häuser und Wohnungen der Spekulation preisgegeben. Bethanien wurde zum Symbol. Wir hatten ein Gebäude-Teil mit vielen anderen nach einem Konzert besetzt. Das war eine Aktion gegen Abriss, Leerstand und Verdrängung. Am Ende konnten wir sagen, der Kampf war erfolgreich. Denn hätten wir alle damals nicht Widerstand geleistet, würde ganz Kreuzberg 36 heute aussehen wie die hässlichen Neubauten am Kottbusser Tor. 1972 haben wir den Rauch-Haus-Song aufgenommen. In diesem Song wird genau diese Geschichte erzählt. Und er ist heute auch Zeugnis dafür, dass sich Aufstehen für ein selbstbestimmtes Leben und die eigenen Rechte lohnt. Dafür stehen wir als Band zusammen mit Rio – gerade auch als Teil einer ganzen Generation. Leider ist der Rauch-Haus-Song – wie viele andere Scherben-Lieder – immer noch aktuell. Wenn wir nicht lernen, auf das, was wir erreicht haben, zufrieden zurückblicken zu können und unseren Platz in den Geschichtsbüchern und im öffentlichen Raum zu erkämpfen, wenn wir nicht lernen unsere kulturellen Errungenschaften und die Menschen, die daran ihren Anteil hatten, in Erinnerung zu behalten, dann werden den nachfolgenden Generationen die Vorbilder für diesen couragierten Kampf um Freiheit, Vielfalt und Gerechtigkeit fehlen. Ich fände es gut, wenn wir viele positive Beispiele in den öffentlichen Raum tragen und in unserem kulturellen Gedächtnis verankern.
Ein Platz für Rio Reiser ist ein guter Schritt, dem viele folgen sollten. Rio wäre nächstes Jahr 70 Jahre alt geworden, unsere Band Ton Steine Scherben wird 50. Dazu haben wir nächstes Jahr im September einige Veranstaltungen geplant. Feiern wollen wir – hoffentlich auch mit Euch zusammen – in verschiedenen Locations hier in Kreuzberg – rund um den Heinrich-Platz – der dann Rio-Reiser-Platz heißen könnte. ” (Original-Text: Elser Maxwell, Bearbeitung: Sema Binia, Jens Johler, Kai Sichtermann)